Snowpiercer
Bong Joon-ho , Republik Korea, USA, 2013o
Im Jahr 2031 hat der Versuch, die globale Erwärmung zu stoppen, die Erde in eine neue Eiszeit gestürzt. Die letzten Reste der Menschheit sitzen auf einem rasenden Zug fest: vorne die Reichen und Mächtigen, in der Mitte ihre militärischen Handlanger, hinten die Lumpeproletarier, die sich gerade wieder einmal gegen ihre Unterdrücker zusammenrotten. Unter ihrem widerstrebenden Anführer Curtis soll diesmal alles anders kommen als beim letzten Aufstand.
Der Südkoreaner Bong Joon-Ho ist seit dem Monsterfilm «The Host» auch im Westen als eigenwilliger Genrefilmer bekannt. Für seine erste englischsprachige Produktion hat er den französischen Comicroman «Le Transperceneige» zur Achterbahnfahrt in klaustrophobischer Enge verdichtet. Damit erfindet er die dystopische Endzeitfantasie nicht neu, verleiht ihr aber mit Formwillen und Polithintersinn neuen Schub.
Julia MarxEine neue Eiszeit auf der Erde, die wenigen Überlebenden haben sich in den Snowpiercer gerettet, einen Zug, der wie ein Perpetuum Mobile unaufhaltsam seine Runden um die Erde dreht - darin tobt ein blutiger Klassenkampf. Bong Joon-ho verdichtet mit großer Eleganz die gleichnamige Graphic-Novel-Reihe zu einer klaustrophobischen Achterbahnfahrt mit brutaler Bremsung.
David Steinitz‘The Host’ director Bong Joon-ho has corralled a magnificent cast including Tilda Swinton, John Hurt, Jamie Bell, Ed Harris, Chris Evans and Ewen Bremner for this sci-fi actioner based on a French graphic novel. In a frozen post-apocalyptic wasteland, the only thing moving is the Snowpiercer, a sealed train housing the last vestiges of humanity – rich at the front, poor at the back. Hey, allegory! This Korean-French-American co-production has actually been released in the first two of those territories, and has been hailed as a classic, while the handful of British critics who made the trip across the channel came back raving (in a good way).
N.N.Un film d’action éblouissant sans jamais quitter l’espace clos d’un train lancé autour du monde.
Romain BlondeauLe plaisir de voir s’épanouir une œuvre d’une telle vitalité doit probablement beaucoup à cet art de la versatilité si tranchant – demeurer insaisissable en s’adaptant à toutes les situations – qui est devenu, de film en film, la propriété exclusive de son auteur.
Vincent MalausaGalerieo
Dieser Film ist eine Bombe, er sprengt die soziale Eiszeit: Mit der finsteren Zukunftsvision «Snowpiercer» meistert der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho den systemkritischen Actionfilm.
Manny Farber, der amerikanische Filmkritiker und Maler, nannte es die «Leuchtbomben der Vitalität». Er meinte das, was am Kino unberechenbar bleibt, was von irgendwoher einschiesst und die Leinwand zur Explosion bringt. Der Geheimfaktor des Kinos sozusagen, der aufscheint, sobald eine Szene zündet, ein Schauspieler funkelt, ein Kameramann magisch schwenkt.
«Snowpiercer» ist ein Film voller Leuchtbomben. Er spielt in einer gefrorenen Zukunft, in der ein Zug mit den Resten der Menschheit im Kreis um die Welt pflügt, quasi als rollende Arche im ewigen Schnee. Anhalten darf er nie: Draussen herrschen nach einer gescheiterten Therapie gegen die Klimaerwärmung Tod und Kälte. Drinnen, im Refugium des Lebens, ist es schlimmer: Das Lumpenproletariat darbt in der Holzklasse am Schwanzende des Zuges. Zur Lokomotive hin werden die Abteile immer nobler. Zuvorderst, im höchsten Führerstand, sitzt Wilford der Grosse, der Erfinder und Wächter über die Weltmaschine, und brät ein Steak. Ihm widmen die Primarschüler – eine Schule gibt es auch – eigene Hymnen, und im Grunde ist dieser Wilford Noah und Schöpfergott in einem: die letzte Rettung und der allerletzte Tyrann.
Aufstand der Ausgeschlossenen
Aber jetzt sind wir bereits an der Zugspitze. Dabei müssen wir hinten beginnen, im Dreck des revolutionären Subjekts. Dunkel ist es hier und eng, Pritsche stapelt sich auf Pritsche, und die Gesichter sind von Russ geschwärzt. Dafür helfen sich die Armen, solange es geht, und tun Übermenschliches, sobald es nicht mehr geht. Ein Klassenbewusstsein ist bereits vorhanden, als der Film beginnt, es hat nicht zuletzt mit den widerlichen Proteinriegeln zu tun, die die Abgehängten schlucken müssen. Curtis, ihr Anführer (Chris Evans), ist hart und bärtig, sein Protegé (Jamie Bell) ein Sinnbild des Ehrgeizes. In der Klause hockt eine Art Gandalf (John Hurt) und liefert den geistigen Überbau zum Kampf der Körper. Als der Augenblick kommt, wird der Feldzug eingeleitet, der Trupp stellt sich gegen seine Aufpasser und erobert Wagen um Wagen. Die Sozialstruktur ist eine vertikale Hierarchie; «Snowpiercer» legt sie in die Horizontale.
So weit, so Allegorie. Der in Klassen geteilte Glacier-Express, der ziellos vorwärtsrast – das kann nur ein Bild für unsere Turbogesellschaft sein, für ein beschleunigtes Leben, das vektoriell nach vorne prescht und dabei allerlei Verlierer zurücklässt. Aber der Actionfilm ist ja keine Einführung in soziologische Theorie, sondern die Kunstform von Bewegung und Rasanz. Sein Plot ist die Action selbst, die Dynamik von Kraft und Gegenkraft. Er handelt davon, was Menschen praktisch tun, und bedenkt ihre materiellen Schranken mit.
Der Marxismus ist da bereits eingebaut und die Metaphorik von «Snowpiercer» eigentlich überflüssig. Aber bei Regisseur Bong Joon-ho bleibt sie stets plastisch. Schliesslich ist der Südkoreaner ein Meisterkomponist des Kinos. Er beherrscht Rhythmus und Tonlagen, er zieht das Tempo an und bremst wieder ab, er setzt Zeitlupen dort ein, wo sie nötig sind, weil in der Langsamkeit die Tragik glüht. Er meistert Spannung wie Komik und bleibt sicher im Register, selbst wenn auf den Thrill der Slapstick folgt, und manchmal ist man nicht sicher, ob man in dieser Düsternis lachen darf (man darf). Auch die Kabinen sehen aus, als seien sie tatsächlich bewohnt. Wir entdecken den Zug gleichzeitig mit den Rebellen, uns gehen die Augen über, da wachsen Tomaten, da schwimmen Fische, es wird immer bunter, und nur schon filmarchitektonisch ist es ein Staunen und ein Wundern.
Noch raffinierter ist die symmetrische Bauweise des Drehbuchs: Alles, was am Ende des Zuges geschieht, findet ein Echo an dessen Spitze. Und vor allem wird die Dramatik aufgeladen mit der rebellischen Energie der Ausgeschlossenen – wie schon in Bong Joon-hos Science-Fiction-Film «The Host» (2006). Das war ja auch ein Thriller um ökologische Verantwortungslosigkeit. Die Technologiegesellschaft gebar darin ein Monster und liess es auf die Bewohner von Seoul los. Ausgerechnet eine verlotterte Familie stellte sich gegen das Ungeheuer – mit Pfeilbogen und Molotowcocktail.
Tilda Swintons Ekelgouvernante
Womit wir wieder bei den Leuchtbomben wären. Eine davon zündet früh in «Snowpiercer»: In der Hoffnung, dass die Gewehre der Aufpasser keine Kugeln enthalten, hält sich Curtis der Bärtige einen Lauf an den Kopf – und drückt ab. Klick. «They’ve got no bullets!», brüllt einer, und die Revolte kommt in Gang. Die Sequenz ist ein genial getakteter Adrenalinschub, bringt den Moment zum Bersten. Wann hat uns ein Genrefilm zuletzt so elektrisiert? Und warum spielt Tilda Swinton immer so toll? Hier tritt sie auf als Ekelgouvernante mit falschem Gebiss und hält vor den Slumbewohnern apodiktische Reden, die immer gleich gehen: In jeder Gesellschaft gebe es oben und unten, jeder müsse seine Position kennen. «So it is!», keift sie, so lautet die Ordnung.
Ideologie, zeigt «Snowpiercer», stellt etwas Gemachtes als natürlich dar. Und die Eiszeit draussen vor den Fenstern erinnert mit aller Härte daran, dass eine andere Welt unmöglich ist. Ein Schelm, wer dabei nicht an den Kapitalismus denkt und an die Ungleichheit, die er mit sich zieht. «Be the shoe!», ruft die Gouvernante dem Gesindel entgegen, und meint: Bleibt unten. Bei Bong Joon-ho kann man sicher sein: Irgendwann kommt ein Schuh geflogen.
Ja, «Snowpiercer» hat einen Zug ins Irre. Der Film beruht auf der französischen Comicserie «Le transperceneige» von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette. Bong Joon-ho soll die drei Bände im Stehen verschlungen haben, als er sie in einem Buchladen entdeckte. Er übernimmt davon aber nur die Grundidee vom ewig kreisenden Zug. Der Rest ist Autorschaft und Anarchie. Und auch wenn der Südkoreaner erstmals in englischer Sprache drehte und dazu mit internationalen Stars und Geldern: Er behält die Kontrolle über Ästhetik und erzählerischen Drive. «Snowpiercer» tanzt nach eigenem Offbeat-Takt und springt spielend von einer Oktave zur nächsten. (Mit der Logik nimmts der Film nicht allzu genau, aber wenn der Plot dasselbe ist wie Bewegung, fegt er auch über seine Löcher hinweg.)
Auslese im Weltmodell
Am Schluss, das darf man verraten, dringt Curtis der Bärtige bis zu Wilford dem Grossen vor. Der Showdown wird zum Wortduell über die Systemlogik eines Zivilisationsmodells. Es beruht auf einem prekären Gleichgewicht von Starken und Schwachen, erklärt Wilford, und eigentlich herrschen in seinem Zug die Naturgesetze der Auslese, während die tödliche Eiszeit eine menschengemachte Katastrophe darstellt. Das ist die erste bittere Verkehrung von «Snowpiercer». Die zweite ist noch bitterer, weil wir sie allzu gut kennen: Revolutionen sind nur dazu da, das Personal der Institutionen auszutauschen. «Snowpiercer» aber weiss: Man muss das System als Ganzes niederbrennen. Dann explodieren noch zwei, drei Leuchtbomben. Als die grösste von ihnen zündet, wird die Leinwand gleissend hell.